Prolog: Kotz dich aus, Martin! Betten-Chaos im Baltic Hostel
Freitag, 8. August 2008:
Flug "Frankfurt"-Hahn - Danzig Es war der ungünstigste aller Augenblicke. Die letzte Stewardess hatte sich nun auch angeschnallt. Alles erwartete gebannt wartend oder betont lässig den Start des Ryan Air Flugs. Martin hatte im Bus nach Hahn auf den Hunsrück noch gelesen. Sein Kopf war im Flugzeug lautlos auf seine Knie gesunken. Wir saßen in der ersten Reihe auf der rechten Seite. Versehentlich hatte ich bei der obligatorischen Online-Buchung mit ihrem gelegentlichen Hin und Her "Priority Boarding" gewählt. So konnten wir uns den Platz aussuchen und ich sah jetzt vorwiegend auf eine graue Wand. In diesem Moment erhebt sich Martin aus seiner Power-Nap-Stellung und meint unvermittelt: "Mir ist schlecht." Ich kenne mein 13jähriges Patenkind nicht so gut, dass ich die nächsten Minuten sicher einschätzen kann. "Musst du dich übergeben?" "Jaa." Ich wende mich händeringend an die zwei Meter entfernt sitzenden Stewardessen: "We need a plastic bag." Bei Ryan Air sind auch die Kotzbeutel aus der Standardausrüstung des Passagierplatzes eingespart worden. Es gibt unter dem Klapptisch überhaupt nichts. Schon gar nicht in der ersten Reihe. Die Stewardess zuckt mit den Schultern. An eine Plastiktüte komme sie jetzt nicht dran und ansonsten sei Vorschrift Vorschrift. Den Start müssen wir selber überstehen. "Schnell!" unterstreicht Martin die Dringlichkeit. Der ältere Herr zu meiner Linken ist zwar engagiert, nicht zuletzt aus Eigeninteresse, kann aber nicht helfen. Hinter uns die Sitzreihen blieben aufgrund weiterer Vorschriften leer. In einem letzten Verzweifelungs-Appell wende ich mich an die drei linken Sitzreihen. Help! Ein Mann reagiert sofort und opfert seine aktuelle Kickerausgabe, in der er gerade liest, las. Ich reiße sie nach rechts vor Martin, der in diesem Moment ein wenig mit seinem Oberkörper ausholt und nun den mit letzter Kraft zurückgehaltenen Schwall seines bisher Unverdauten in einem Bogen in die Kickerausgabe befördert. Zumindest zu 98 Prozent. Innert weniger Sekunden ist die Kicker-Ausgabe randvoll. Das Flugzeug steht immer noch. Die Stewardessen immer noch vorbildlich angeschnallt. Aha, ein Trip mit einem Jugendlichen ist ein in alle Richtungen offenes Event. Geht es mir durch den Kopf, während sich die unvermeidlichen olfaktorischen Folgen einstellen. Mein linker Sitznachbar wendet sich nun verstärkt dem Mittelgang zu. Ich registriere die Stellen von Martins Kleidung und Umgebung, die die restlichen zwei Prozent abbekommen haben. Und irgendwann gibt der Pilot richtig Vollgas, und das Flugzeug hebt sich, zum Glück ganz sanft, über die Höhen des Hunsrücks. Es dauert nur noch eine kleine Ewigkeit, bis die Stewardess sich abschnallen darf, eine weiße Plastiktüte überreicht und gleich noch eine fürs nächste Mal. Das war nicht die erste Panne heute. Als wir uns an Gleis 2/3 des Mainzer Hauptbahnhofs treffen, ist Martins Fahrrad schon manövrierunfähig. In Mannheim habe das Hinterrad plötzlich die Luft verloren. Ich kann also direkt vor dem Hauptbahnhof meine Fahrrad-Kompetenz unter Beweis stellen. Flickzeug und Pumpe habe ich in meinem Bürorucksack dabei. Bei erster Analyse handelt es sich um zwei Löcher, genauer Schlitze, beide unmittelbar neben zwei Flicken, die in Minimalstgröße aus einem Bogen herausgeschnitten sind. Das erschwert, unmittelbar daneben Flicken zu platzieren, weil die alten Flicken nicht am Rand abgeflacht sind. Schlauch-Tausch ist mein nächster Gedanke. Ich hab nicht mal Werkzeug in Mainz, um das Vorderrad von der Gabel zu nehmen. Mein Rad-Werkzeug hab ich mit dem Fahrrad und anderem Gepäck am Sonntag vor dem Rückflug im Baltic Hostel in Danzig gelassen. Lassen wir also Martins Fahrradwrack am Bahnhof, holen mein Gepäck. Da das Rad mit heraushängendem Schlauch keinen Millimeter vorwärts oder rückwärts rollt, darf ich es nun immer von Station zu Station schleppen.
So ist es auch am Danziger Flughafen. Martin geht mit der zweiten weißen Ryan-Air-Tüte in der Hand recht benommen. Zum Glück steht der Stadtbus schon eine halbe Stunde vor Abfahrt bereit. Martin legt sich auf die Rückbank. Und auch hier entleert er sich noch einmal kurz vor dem Start. Für die halbstündige Busfahrt schlage ich vor, dass er sich nach vorne setzt. Martin will nicht anders, kann nicht anders, bleibt auf der Rückbank des langen Gelenkbusses liegen. Als wir vor dem Danziger Hauptbahnhof "Dworzec Główny"
aus dem Bus gestiegen sind, kommt der letzte Akt. "Kotz dich aus, Martin!" Es ist nicht mehr viel drin. Ich schleppe mich mit Martin, Gepäck und Fahrrad ein paar hundert Meter zum Baltic Hostel. Ich hatte es vor einer Woche getestet und für einen Dreizehnjährigen für gut befunden. Martin wollte eine Tour mitfahren, wie ich sie sonst mache. Und da bin ich genau in diesem Hostel abgestiegen, letzte Woche erst. Eines der "independant hostels", die auf engstem Raum ein Maximum an Leuten aus aller Welt unterbringen, wo man unkompliziert Kontakte knüpfen kann. Ich wusste aber auch vom letzten Besuch, dass es am Wochenende mitten im Sommer reichlich voll ist. Gleichwohl lief jeder Reservierungsversuch ins Leere. Genug leere Betten gebe es immer. Ja sogar heute, wie sich herausstellt, aber nicht mehr zwei Betten in einem Zimmer.
Wie gern wäre ich jetzt mit Martin in einem ruhigen Hotelzimmer allein... Aber es ist Freitag Abend 23 Uhr mitten in der Hochsaison. Martin wird seine erste polnische Nacht nach mehrstündiger Kotz-Arie allein mit Wildfremden in einem Etagenbett des Baltic Hostel verbringen müssen. Immerhin: in seinem Sechs-Betten-Zimmer sind lauter nette junge Mädchen, und das letzte freie Bett ist sogar auf der unteren Etage. Martin dämmert eh nur noch vor sich hin. Ich schleife ihn kurz mit in mein Zimmer: eine Bierwolke schlägt uns entgegen, in einem der Dreier-Etagen-Betten ist noch die mittlere Lage frei. Der Boden ist vollgestellt mit Taschen und herum liegenden Klamotten. Ich lasse erst mal nichts hier. Bin froh, dass in dem überfüllten Hostel mein Fahrrad als auch meine beiden herumstehenden Fahrradtaschen von der letzten Woche noch komplett vorhanden sind. Zurück in Martins Zimmer macht mir ein Mädchen ein nettes Angebot. Ich könne in ihrem Bett über Martin schlafen. Sie liege im Bett nebenan mit ihrem Freund zusammen. Ihr Bett sei nicht genutzt. Gut, es hängt ein Rucksack dran, ein Handtuch zum Trocknen, aber ich bin mehr als glücklich über das Angebot. Nachdem Martin schnell ganz hinweggedämmert ist, spricht ein Deutscher bei mir vor. Er wolle sich entschuldigen, dass er eine Bierflasche im Zimmer umgekippt habe, ich sei jedoch herzlich willkommen in dem Drei-Etagen-Bett. Schon gut. Ich wasche Martins Kotzklamotten, quatsche ein bisschen mit dem Nachtwächter, der lange in Berlin gelebt hat. Erzähle ihm auch, dass Martin und ich nun doch in einem Zimmer übernachten können. Kurz nach Mitternacht liege ich in meinem Etagenbett, in dem ein Kuli auftaucht. Sei's drum. Es ist dunkel. Ich bin müde. Friedlich liegt schräg gegenüber das Pärchen im Bett. Überraschung um ein Uhr. Das Pärchen ist wach geworden und will offenbar noch mal losziehen. Nein, sie reisen ab. Als ich ihnen in letzter Minute den Kuli reichen will, lehnen sie dankend ab. "Der gehört uns nicht," sagen sie. Und sprechen auch noch Deutsch. Nun gut. Vier Uhr morgens: Beim Öffnen meiner Auge sehe ich einen
Südländer wild neben meinem Bett gestikulieren: "This is my bed." Nun, ausschließen kann ich das nicht. Und der Spätheimkehrer hat berechtigter Weise Angst um sein gesamtes Hab und Gut. Zumindest in dieser Hinsicht kann ich ihn beruhigen. Selbst sein Kuli ist da. Längst hat der Südländer den Nachtwächter mobil gemacht, die restlichen Mädels in unserm Zimmer erkundigen sich: "What's up?" Nur Martin gleitet nahtlos von Traum zu Traum. Salomonische Lösung. Ich verkrieche mich mit dem Bettzeug in das Ex-Pärchen-Bett, der Nachwächter bezieht das Pärchen-Bettzeug neu für den Südländer. Good night.
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