Miris Perso und die unfreiwillige Trennung
Samstag, 4. Juli 2015: Mainz - Zug - Rotterdam - Bus - Europoort - Fähre - Hull
Das heißeste Wochenende des Jahres, am Sonntag wird mit 40,3 Grad in Kitzingen ein Deutschland-Rekord aufgestellt, hat am Rhein fast seinen heißesten Punkt erreicht, als Miris Gesichtszüge entgleiten, wie sie da auf dem Bahnsteig des Düsseldorfer Hauptbahnhofs zwischen Gleis 4 und 5 sitzt. Wir haben schon drei Stunden im nicht klimatisierten ehemaligen Interregio-Abteil des Intercitys hinter uns, der seine halbstündige Verspätung von Mainz locker auf eine ganze Stunde ausgebaut hat. Doch jetzt ist die ganze Fahrerei in Frage gestellt. Miri hat ihren Perso vergessen. Und damit bzw. ohne ihn kommen wir nicht auf die Insel. Unser Zug nach Venlo rollt ein, wir steigen trotzdem rein. Wenigstens kühl. Unsere Gedanken und Pläne sind weniger cool. Wir können die Fähre umbuchen. Entscheiden uns dagegen. Es gibt günstige Flüge heute Nacht und morgen in aller Herrgottsfrühe von Hahn nach Stansted. Von dort sollte Miri morgen beizeiten in Hull sein. In Mönchengladbach verlässt Miri daher den Zug mit einem kleinen Täschle und fährt zurück nach Mainz. Ich bleibe sitzen samt beiden Rädern und jeder Menge Gepäck.
Im Bahnhof von Venlo hab ich Glück. Der Intercity nach Rotterdam fährt vom gleichen Gleis. Doch als er eingefahren ist, blockiert eine Frau mit Kinderwagen sofort das vordere Fahrradabteil. So muss ich doch innerhalb von zwei Minuten ein paar hundert Meter mit beiden Rädern zur Zugmitte. Wie gerufen kommen vier junge Leute mit drei Fahrrädern. Ich frage das fahrradlose Mädchen, ob sie mit Miris Rad fahren könne. Macht sie. Am Ende quetschen wir fünf Räder in eine Lücke für zwei (Foto oben links). Der Großraumwagen ist wunderbar klimatisiert, hat bestens funktionierendes Wlan (Hallo, Deutsche Bahn!), mit dem ich weiter an Miris Zug-Bus-Flug-Bus-Zug-Route nach Hull basteln kann. Und wir Radler haben den Waggon für uns. Ein Holländer kommt grad von einer Rhein-Alpen-München-Donau-Neckar-Rhein-Tour in extremster Hitze zurück. Begeistert. In Rotterdam bin ich wieder allein mit meinen beiden Rädern. Es ist nicht mehr ganz so heiß. Ich brauche erst mal eine Pause. Theoretisch könnte ich mit unsern Fahrkarten wie geplant bis Hoek van Holland mit dem Zug fahren. Von dort wollten wir nach einem Bad in der Nordsee
zur Fähre radeln. Ich könnte auch auf halber Strecke aussteigen und die letzten zehn Kilometer radeln. Doch es soll einen Shuttle-Bus zur Fähre geben. Zunächst muss ich raus aus dem Bahnhof durch die eigentlich automatische Sperre, die es andernorts nur für die Metro gibt. Ich werde nach einer Ticketkontrolle vom Sicherheitspersonal manuell aus dem Bahnhofsbereich entlassen. Die TouriInfo hat eine gute Nachricht: vor dem Bahnhof fährt um 17 Uhr der Shuttle-Bus. Allerdings brauche man eine Reservierung. Ich radle mit beiden Rädern hin. Wenn ich aufs kleinere Rad steige, den Rucksack aufsetze, das Gepäck gleichmäßig verteile, das größere Rad rechts mit dem stärkeren Arm führe (heute leicht zurückhängend, weil sich sonst die Fahrradtaschen ins Gehege kommen), klappt das. So würde ich wohl auch zehn Kilometer zur Fähre schaffen. Jetzt sind es nur zweihundert Meter zum (Reise-)Bus. Der kommt grade an. Wird nur halbvoll. So ist Platz unten für beide Räder und oben für mich. Endlos rollen wir auf der Schnellstraße durch die Hafenanlagen. Bis zum Passagierterminal von P & O Ferries. Ich muss zurück zur Autoeinfahrt. Denke ich. Mache ich. Als ich durch bin, kommen andere Radler direkt aus dem Passagierterminal. Drei ältere Engländer sitzen dort wie die drei von der Tankstelle. Mit Uralt-Rädern und ohne Helm sind sie durch Holland gefahren. Drei junge Engländer kommen dazu. Auch ohne Helm. Auch durch Holland gefahren. Endlich wird die Auffahrt zur Fähre geöffnet. Aber Autos zuerst. Am Ende wir. Elf Prozent Steigung werden angekündigt auf der langen Betonrampe zu Deck 7. Jetzt muss ich Rad für Rad einzeln hinauffahren (Foto oben). Nach dem zweiten gibt es Szenenapplaus vom Sonnendeck. Ich hab's geschafft. Eine Dreiviertelstunde vor Abfahrtszeit legt die Pride of Rotterdam in der tief stehenden Sonne (Foto unten) schon ab. Der Rest ist ein Blick auf Strand und Hafen von Hoek van Holland (Foto oben rechts). Wäre schön gewesen. Aber alle Radler klagen über den heftigen Gegenwind auf dem Weg zur Fähre. So habe ich die kleine Innenkabine für mich und meine momentan sechs Ortliebtaschen allein.
Sommerliche Abendsonne im Europoort
Sommerliche Morgensonne im River Humber
|
Happy End mit Fish'n'Chips
Sonntag, 5. Juli 2015: Hull - Hornsea - Bridlington (64 km)
Punkt sechs Uhr britischer Zeit knallt aus dem Lautsprecher in der Kabine der wertvolle Hinweis, dass man jetzt frühstücken könne. Die Fähre lege dann in zwei Stunden an. Als ich zur Morgensonne aufs Sonnendeck steige (Foto oben), gibt's kein Meer mehr, weil wir längst den riesigweiten Humber-Fluss nach Hull raufgleiten.
Die Fähre legt schon kurz nach sieben an. Aber bis ich von Deck 7 runterrollen kann auf die Insel, ist es halb acht. Noch einmal darf ich allenthalben erklären, warum ich ein "spare bike" an meiner Seite führen. Dann passiere ich nach der Passkontrolle einen Polizeiwagen. Die Jungs haben sich bereits auf die englischen Radler gestürzt und monieren irgendetwas an deren Rädern. Dass ich mit zwei Rädern fahre, nehmen sie gar nicht wahr. Jetzt ist vierfache Konzentration angesagt: zwei Räder durch den Linksverkehr steuern (Foto rechts). Sieben Kilometer lang. Dann habe ich die Altstadt von Hull erreicht. Vor zehn Monaten kam ich mit einsetzendem Erbrechen und Schüttelfrost bei Regen mit Miri hier an. Und sah im Wesentlichen nur das Bahnhofsinnere. Heuer ist Sonntag, alles relaxed, ein Kajak-Wasserball-Turnier schafft lockere Sportler-Atmosphäre. Die Trinity Church ist schon mit ihrem 9 Uhr 30 Gottesdienst zu Gange. Nach einem
large Cappuccino geht's mit mir aufwärts. Ich schließe Miris Rad an, packe alle sechs Ortliebtaschen auf mein Rad und mache eine kleine Erkundungstour. Entdecke einen geöffneten Radladen. Kurz darauf fahre ich hier bei Cliff Pratt mit beiden Rädern vor. Miris Hinterradbremsen müssen dringend erneuert werden. Und auch die vordere Gangschaltung braucht ein kleines Update. Um elf öffnet die TouriInfo. Sehr freundlich. Mit kostenlosem Fahrrad-Stadtplan. Aber weder hier noch zuvor im Radladen kennen sie die von GoogleMaps gepriesene Direkt-Radverbindung nach Hornsea. Vier Minuten früher als laut Fahrplan fährt Miris Zug im Bahnhof ein. Ich komme gerade rechtzeitig. Sie hat heute Morgen den Bus um 4 Uhr 20 am Mainzer Hauptbahnhof genommen und ist nach achteinhalb Stunden und allen möglichen Verkehrsmitteln wieder bei mir. So glücklich wären wir, wenn alles nach Plan gelaufen wäre, in diesem Moment niemals gewesen...
|
Wir finden den Einstieg zu National Cycle Network Route 65, der "White Rose Cycle Route", die auf einer ehemaligen Bahntrasse von Hull direkt nach Hornsea führt. Meist holprig asphaltiert, mal weniger holpriger Feldweg. Es ist dunkel bedeckt geworden. Hin und wieder ein paar Regentropfen. Nicht besonders warm. Und dennoch sehr schön. Ab Hornsea sind wir am Meer. Können noch eine Weile an den Klippen über der Brandung auf Feldwegen bleiben (Fotos unten). Und vor Bridlington ist es ähnlich. Der Blick auf das sich zurückziehende Meer. Blühender Raps. Fast reife Weizen- und Gerste-Felder. Englischer Sommer. Kurz hinter dem Ortseingang von Bridlington halten wir an einem Seafront B & B. Der Mann der Chefin ist Kölner. Zumindest ganz früher mal gewesen. Kölsch mit englischem Akzent spricht er inzwischen. Und fühlt sich hier am Strand von South Beach und einem Job in York wohl. Wir erwischen im Ort noch den besten Fish'n'Chips ever. Und bewundern die ersten von vielen aufgehängten Rädern in ukrainischen Farben (Foto links). Sie erinnern an die erste Etappe der Tour de France 2014 durch Yorkshire.
|
 Auf den Klippen bei Hornsea
 Blick auf die Bucht von Bridlington
 Verfallene Verteidigungsanlagen südlich von Bridlington
|
Zurück bei Robin Hood
Montag, 6. Juli 2015: Bridlington - Scarborough - Whitby (78 km)
Miri stürzt sich schon um sieben Uhr in die eisig kalten Fluten am Strand. Vom Frühstückstisch aus sieht die Sonne über dem Meer ganz verlockend aus (Foto rechts). Sie begleitet uns die ersten Stunden. Ein paar Meter fahren wir noch direkt am Meer über den mit Bänken besetzten Klippen (Foto unten). Dann beginnt die NCN Route 1, der wir heute konsequent folgen, einen kleinen Zickzackkurs über kleine Straßen gen Norden. Südwind unterstützt uns. Der Weg ist unspektakulär. Dennoch sehr schön. Mit einigen Höhenmetern.
|
 Klippen von Sewerby
 Südstrand von Bridlington
 Im hügeligen Hinterland
|
Nach einem Basis-Einkauf im Sainsbury von Scarborough (Foto erste Pause links) kommt der "Cinder Track" auf der ehemaligen Bahnstrecke nach Whitby, weiterhin NCN 1. Den sind wir vor einem Jahr als Epilog zu unserer Tour Ostende - Hull gefahren. Ich damals im Anschluss an eine Kotzeritis. Heuer geht's mir auch nicht dolle. Immer noch Kopfschmerzen. Aber der Bahn-Weg ist immer noch großartig, wenn auch nicht asphaltiert (Foto unten). Er führt auf rund zweihundert Meter über dem Meeresspiegel, aber mit Eisenbahn-gemäßer Steigung von ein bis zwei Prozent. Wesentlich weniger los als vor einem Jahr. Die Sommerferien hier haben noch nicht begonnen. Vor allem ältere Wanderer-Paare grüßen uns. Dann wieder hinab auf sechzig Meter in Robin Hood's Bay. Danach wieder hinauf vorbei an grasenden Schafen. Beim Schalten verliere ich den Plastikbezug des Schalthebels (Foto s. Ausrüstung-Seite). Obwohl ich sofort anhalte, finden wir in dem einsetzenden Regen das Plastikteil nicht mehr. Da wir Whitby Abbey schon im vergangenen Jahr erlebt haben, fahren wir heute über das hohe Viadukt des River Esk im Bogen runter in den Ort. Sehr nett hier. Weniger voll diesmal. Nur Fish'n'Chips ist nicht so prickelnd wie gestern in Bridlington.
|
 Auf dem Rail-Trail 'Cinder Track' zwischen Scarborough und Whitby
|
Rekord-Steigungen im Moor
Dienstag, 7. Juli 2015: Whitby - North York Moors - Middlesbrough (60 km)
Im vergangenen Jahr waren wir gezwungen, die Tour in Whitby zu beenden und mit dem Zug fortzusetzen. Der Blogeintrag damals: "Um 19.19 Uhr startet der letzte Zug heute nach Middlesbrough durchs North Yorkshire Moor. Ein Traum. Zumal bei Sonnenuntergang. Ein grünes Tal voller Wiesen, eingerahmt von knorrigen Bäumen und Heidelandschaft. Ideal für die nächste Radtour." Das soll nun heute realisiert werden. Die Karten zeigen allerdings an: eine Straßenverbindung parallel zur Zugstrecke im Talboden verlaufend gibt es nicht. Den Abstecher ins Moor erleichtert allerdings die Tatsache, dass der GROSSE Nordseeumrundungsradweg, hier NCN 1, in Whitby einfach endet. Er setzt erst 18 Kilometer weiter nördlich in Staithes an der Küste wieder ein. Die dorthin führende A-Road erschien den Planern wohl nicht zumutbar für Radler. Aber was sollen sie tun?
Als Alternative ist wohl die NCN-Route 165 gedacht, die quer durch den North York Moors National Park führt und sich in Middlesbrough wieder mit dem NCN 1 vereinigt. Ich glaube allerdings, eine noch bessere Streckenführung als den NCN 165 gefunden zu haben. Eben auf der Basis unserer Zugfahrt möglichst nah an der Bahnstrecke. Sie erweist sich allerdings vor allem als noch härter. Wir radeln zurück über das Viadukt mit Blick auf den River Esk. Kurz darauf stoßen wir in Ruswarp auf den NCN 165 und folgen ihm im Flusstal. Bei Sleights allerdings steigen wir durch den Ort auf, um anders als der NCN 165 auf der Südseite des River Esk zu radeln. Die Straße schwingt langsam mit einem Auf und Ab an, das sich stetig steigert. Bis bei der Abfahrt zum Bahnhof von Grosmont plötzlich 30 (in Buchstaben: dreißig) Prozent Gefälle angekündigt sind. Und es ist nicht der steilste Teil des heutigen Tages. Am Bahnhof stoßen wir gerade auf den Steamtrain. Mit ohrensprengendem Lärm stößt die Lokomotive Wasserdampf vorne hinaus, während der schwarze Dampf aus dem Schornstein steigt. Langsam setzt sich das Gefährt in Gang. Zu genau dem klassischen Zischen, das so lautmalerisch zum Markenzeichen des Zugfahrens geworden ist. |
Dampflokomotive startet im Bahnhof Grosmont
|
Miri radelt durch Schafverkehr
|
Vor der nächsten 25-Prozent-Steigung (Foto rechts) drehen wir ab auf den Dirt Trail am Fluss entlang bis
Egton Bridge. Danach kommt dann doch eine unausweichliche Mega-Steigung, die bald ebenso steil, 30 Prozent mal wieder (einmal sollen es heute auch 33 Prozent sein) hinunterführt. Nicht, ohne dass wir trotz miserabler Kilometer-Bilanz eine Pause mit Blick auf das in der Sonne liegende Glaisdale machen. Bis dorthin kommen wir gar nicht, weil wir auf der Nordseite des Flusses bleiben wollen, was nur möglich ist, indem wir Bauzäune an die Seite räumen. Nur um wieder eine höllische Steigung in Angriff zu nehmen. D.h. ich schiebe, Miri mäandert auf dem Rad. Am Ende des Tages gibt der Radcomputer als durchschnittliche Steigung fünf Prozent an. Ein extrem hoher Wert.
Ein SUV überholt uns. Wir fragen, wohin es eigentlich geht. Die Straße soll nach Lealholm führen. Irgendwie erreichen wir es auch. Aber realisieren es nicht. Und noch bevor wir es nicht realisieren, stoßen wir wieder auf den NCN 165. Geläutert bleiben wir ihm treu bis Great Ayton. Er verschont uns allerdings keineswegs mit spektakulären Steigungen. Wenn es gelegentlich nur mit 15 oder 17 Prozent rauf geht, jubilieren wir.
Dann Regen. Unter einer riesigen Eiche samt klassischer Feld-Mauer sind wir zunächst ganz gut geschützt. Als wir weiter wollen, legt der Regen erst mal richtig los. Wir bleiben. Langsam werden wir auch hier unter dem Baum nass. Nach fast einer Stunde sind wir so geflutet, dass wir uns ein paar hundert Meter weiter in eine Scheune schleppen. Da ist aber schon wieder blauer Himmel zu sehen, der der Sonne bald das ganze Terrain überlässt.
Bald führt der Radweg mal wieder auf einem sehr schönen Dirt Trail parallel zum Zug. Wieder ist eine Parkbank da, auf der wir in der Sonne unsere Scarborough-Vorräte aufbrauchen. Umgeben von Farn- und Heidekraut. Bei 240 Meter Höhe etwa beenden die Bauern ihre Landwirtschaft und überlassen dem Heidekraut und den Heidelbeeren das Gelände (Foto links). Der Weg heute geht zu guter Letzt auf 280 Meter.
Aus der Hochmoor-Fläche geht es hinab nach Great Ayton. Um zu unserem Hotel am Stadtrand von Middlesbrough zu kommen, müssen wir die Radroute verlassen und auf sehr angenehmer A-Route Richtung Stadt fahren. Bei der Fahrt auf den Hotelparkplatz springt die Kette zwischen Kettenblatt und Rad. Schon wieder. Und wieder ist es eine Schweinemaloche, die Kette da rauszukriegen. Zumal, wenn man so müde und erschöpft ist, wie es heute und auf dieser Tour nicht vorgesehen war. Dennoch der ideale Moment für eine Panne.
|
 Steg auf dem Castle Eden Walkway
|
Auf dem Castle-Walkway zur Partnerstadt
Mittwoch, 8. Juli 2015: Middlesbrough - Station Town - Sunderland (72 km)
Regen verschiebt den Start in den Tour-Tag. Wenn Weatheronline bzw. Wetteronline in Deutschland regenfreie Perioden anzeigt, sind sie auch regenfrei. Hier nicht. Jeden Tag.
Als wir losfahren, regnet's immer noch ein bisschen. In Downtown Middlesbrough weist uns ein Mann stolz auf die Möglichkeit hin, am Busbahnhof das Fahrrad bewacht abzustellen. Die Homepage der Stadt schreibt: "The centre offers free, indoor, manned and secure cycle parking, along with lockers, showering facilities and help and advice." Aber wir sind ja gerade erst gestartet. Und müssen über den River Tee. Die NCN 1 haben wir zwar gefunden, aber die Schilder sind widersprüchlich. Am Stadtende stellen wir fest, dass es auf Middlesbrougher Seite eine Riverside- und eine Town-Variante gibt. Das hilft uns aber immer noch nicht über den Tee. Wir fahren schließlich über die von Google Maps vorgeschlagene Brücke, auch wenn der offizielle Radweg nicht so recht will. Wir finden aber in Stockton on Tee sofort wieder zu ihm zurück. Und danach verlässt er uns nur noch selten. Er führt ungewöhnlich konsequent durch Gewerbegebiete wie durch Wohnviertel und über Schnellstraßen (Foto rechts). Und dann nördlich von Stockton-on-Tee sehr lange fast durchgehend auf einer ehemaligen Bahntrasse.
Herz des Ganzen der Wynward Woodland Park mit seinem Castle Eden Walkway.
Die letzten Züge fuhren hier vor 50 Jahren. Jetzt ist der Untergrund schwarz und weich.
Auch der Nordwind erleichtert das Fahren nicht. Dennoch ein sehr angenehmer weil autofreier Weg. Gelegentlich über eigens gebaute Holzstege (Foto oben). Selbst Radlern begegnet man kaum.
|
Auf dem Holzsteg durch den Sumpf
|
Hinter South Hetton verlieren wir den NCN 1, wollen aber so oder so nach Seaham zurück ans Meer. Von dort geht's wunderbar am Meer entlang sanft nach Sunderland. Partnerstadt meiner Heimatstadt Essen. Mein Onkel hat dadurch eine Dame kennengelernt, die inzwischen 77 Jahre alt ist. Olive (Foto links) empfängt mich sehr nett, und ich erfahre eine Menge über das Leben hier am Südrand von Northumberland.
|
 Blick aus dem Balmoral & Terrace Guest Houses auf Miri in the Sea
 Promenade am Roker Cliff Park in Sunderland
|
Traumhaft am Meer
Donnerstag, 9. Juli 2015: Sunderland - Blyth - Warkworth (75 km)
Wir haben ein wunderbares Zimmer im zweiten Stock der Balmoral & Terrace Guest Houses mit Blick auf Strand, Hafen und Meer. Auch heute stürzt sich Miri am frühen Morgen in die Fluten. Die Wellen schwappen auf die Promenade (Fotos oben). Einige sehr schöne Streckenabschnitte führen direkt an den Klippen entlang (Foto rechts). In South Shields werden wir an die Fähre über den River Tyne nach North Shields geführt. Eine Brücke ist hier weit und breit nicht zu sehen. Der Fluss ist riesig breit. Einige Kilometer landeinwärts existieren Tunnels für Autos, Fußgänger und Radler. Letztere sind aber momentan wegen Renovierung geschlossen. Hier am Fluss begann auch der Hadrian's Wall, auch zu dem gibt es inzwischen den
Hadrian's Cycleway, die NCN 72. Einer der "Coast to Coast"-Routen: "the Roman Way".
Am Leuchtturm von St. Mary's Island ist die Flut noch nicht so weit zurück gegangen, dass wir trockenen Fußes auf die Insel kämen (Foto unten).
|
 Leuchtturm von St. Mary's Island
 Immer auf der britischen National Cycle Route 1
|
Auch in Blyth müssen wir zur Überquerung des gleichnamigen Flusses etwas landeinwärts. Vorher legen wir in einem schönen Park eine Pause ein. Einige Kindergruppen spielen hier in den Wasserfontänen. Und ein etwas herunter gekommener Radler irrt erst umher und schält dann seine Orangen auf der Nachbarbank. Wir kommen kurz ins Gespräch. Aus Tübingen komme er. Ist auch auf dem Weg nach Norden. Wir sehen uns. Noch am selben Abend. Baut er sein Zelt im Burggraben von Warkworth auf, wo auf der andern Seite der Burg auch unsere allernetteste Unterkunft steht: das Roxbro-House. Das am frühen Abend Käse und Wein für alle Gäste spendiert. Wie am frühen Morgen frische Milch vor der Zimmertür für den wichtigen allerersten Tee nach dem Schlaf.
Vorher allerdings sparen wir uns den NCN-1-Abstecher nach Ashington, geraten dafür aber in Newbiggin-by-the-Sea an selbige See, die sich aber als Sackgasse erweist. Nur ein minimaler Umweg. Industrieanlagen umkurvend geht es durch Lynemouth in Schleifen wieder ans Meer. Und nun für den Rest des Tages einfach traumhaft. Ganz ruhige Straßen und Wege direkt am Meer (Fotos oben und links).
Bei Amble geht es zum dritten Mal an diesem Tag landeinwärts. Zur Überquerung des
River Coquet in Warkworth. Unser Tagesziel. Mit besagtem Roxbro-House. Und einem Abendspaziergang.
In der Kirche werden 800 Jahre Magna Charta gefeiert und eine Hochzeit vorbereitet.
|
 Warkworth mit Kirche...
 ...mit Schloss...
 ...mit River Coquet
|
On the Beach
Freitag, 10. Juli 2015: Warkworth
Die wunderschöne Halbinsel auf der Warkworth liegt (Fotos oben und unten) ist ideal für einen Ruhetag. Auch wenn wir ins Nachbarhotel umziehen müssen. Die Unterkünfte werden rar hier im Norden.
|
Miri schwimmt im River Coquet, ich im Meer. Meine Füße bekommen einen Sonnenbrand. Zu wenig Übung im Sonnenbaden. Zu wenig Stranderfahrung.
|
 Blick auf das Schloss von Warkworth aus unserm Zimmer im Sun Hotel
|
Heiler Manfred
Samstag, 11. Juli 2015: Warkworth - Seahouses - Berwick-upon-Tweed (80 km)
Es geht wieder raus rauf auf die Klippen. Wieder mal mehr, mal weniger direkt am Meer. Mal asphaltiert, mal Betonplatten (Foto unten). Mal ein schmaler Pfad am Rande der Klippen. Die mühsamsten Kilometer sind in der Erinnerung die tollsten. Schon geht's auf Meeresniveau hinunter, um den sich dahinschlängelnden River Alnmouth zu überqueren. Der malerische Blick zurück geht über Mohnfelder (Foto weiter unten).
Auf der Höhe von Littlehoughton ist die schönste Bucht (Foto rechts). Wie so oft ist der Weg am Eingang zur Bucht mal wieder mit einem Hindernis für Rindviecher und alle anderen versehen. Diesmal ein Klapptor (Foto noch weiter unten).
|
 Auf Betonplatten
 River Aln bei Alnmouth
 Kleine Hindernisse auf dem Nationalen Radweg Nr. 1
|
Hier fließt nicht nur ein kleiner Bach ins Meer sondern auch eine Quelle, die Whitefin Spring, springt ebenfalls direkt ins Meer. An diesem romantischen Plätzchen, wo der Fahrradpfad am engsten wird, treffen wir ihn wieder: den "Tübinger", den wir schon in Blyth und Warkworth gesehen haben (Foto links). Dann kann er uns wieder einordnen: die aus Mainz. Was er vorgestern sagen wollte und wir nicht verstanden hatten: Mainz wie es singt und lacht sei mal im Fernsehn direkt nach einem "Krimi Loch" gesendet worden. Das sei doch wohl ein kapitaler Programmprogrammierungsfehler.
Manfred heiße er. Er hat hier geschlafen und sattelt grade sein Hab und Gut. Miri fragt nach dem, was rausragt aus seinem Pullover: Flöte aus Holunderholz. "Bekommt man nur im Internet - für 70 Euro."
Er spielt ein paar Töne. Nicht schlecht. Auf einem Flughafen habe man ihn mal mit vorgehaltener Waffe gebeten, die Flöte hinter seinem Nacken hervorzuziehen. Dann hätten alle zu seinen Klängen getanzt.
Mit seinen Sandalen, weiter Trainingshose, langem weißen Bart, weißen Haare und bunter Brille gehören für ihn Schwierigkeiten an Grenzübergängen dazu. 42 Länder habe er mit dem Fahrrad bereist. Zuletzt die Azoren.
Meine Touren-Visitenkarte will er mir erst zurückgeben. Internet sei nicht sein Ding. Er sei Heiler. Und Computer würden die heilende Kräfte stören, wenn nicht zerstören. Natürlich. Auch von Bahn-Fahrkarten-Automaten halte er sich fern. Lasse sich bestenfalls von anderen die Tickets ziehen.
Als Heiler sei er berühmt, denn es gebe schon einen YouTube-Film über ihn: "Manos, der Heiler". Wider seinen Willen habe ein Fernsehsender Material über ihn ins Netz gestellt. Der Film "Manos The Guru" vom Finkenbach-Festival 2011, hat bis heute 1161 Aufrufe. "Manfred Linz aus Bamberg ist ein Heiler, der in allen mystischen, ayurvedischen und heilenden Kreisen bewandert ist", heißt es da. Manfred wirkt um einiges jünger.
Wir fahren voraus.
Folgen der NCN 1 nicht runter in die Sackgasse nach Craster und zum Dunstanburgh Castle, das wir in der Ferne sehen. Folgen dem NCN 1 auch dann nicht, als er kurz darauf ins Landesinnere führt, während die nicht allzu befahrene Küstenstraße uns als bessere Alternative erscheint. So oder so kommt man und kommen wir nach Seahouses. Shoppen dort Trifle, den Berwick Advertiser, Fish'n'Chips, herrliche Teilchen beim Bäcker, Kortison-Salbe und Antihistaminikum gegen Allergien beim Apotheker und ähnliches.
|
Noch ein paar Kilometer und wir sind in Bamburgh (Foto rechts). In Sunderland konnte ich ein Gemälde der Burg am Strand sehen, das Olives Vater 1968 gemalt hat. Miri besichtigt das Schloss. Ich werde bemitleidet ob meines Sonnenbrandes auf den Fußrücken, den ich mit Nivea und viel Trinken bekämpfe. Eine andere Frau schenkt mir Taschentücher. Und als ich ein bisschen rumlaufe, fährt auch Manfred ein auf dem Platz unterhalb der Schlossburg: "So was Gewaltiges hab ich noch nicht gesehen."
Er ist etwas anders gefahren. Hat die Burgruine von Dunstanburgh mitgenommen und musste dann über einen Golfplatz die Route fortsetzen. Danach hat er den NCN 1 weitab von der Küste genommen und sich gewundert, warum niemand weit und breit zu sehen ist.
Sofort kommt er wieder ins Erzählen.
Zwei Frauen habe er gehabt. Eine wohl im Rheinland: sieben Jahre mit Job bei Thyssen Aufzügen, dann war alles vorbei; eine auf den Philippinen, mit der er auch noch verheiratet sei. Von beiden habe er eine Tochter. In Wuppertal habe er von 1979 bis 1984 ein Restaurant gehabt, wo er mit verschiedenen (Frauen-)Veranstaltungen Geld gemacht habe. 250.000 Mark. Am Ende gab's dann aber Probleme mit dem Finanzamt. Aber alles verjährt.
Gestern habe er sich eine tote Taube gebraten, die er irgendwo gefunden habe. Heute hatte er einen Hasen im Blick, aber der war ihm zu groß. Drei, vier Kilo Fleisch. Zu viel. Manfred scheint zufrieden mit seiner Rolle als Radler durch die Lande. Es tut nur weh, dass er den Eindruck vermittelt, nirgendwo anders mehr klarzukommen.
Im Zickzack verlässt der Fahrradweg nun die Küste, vor der hier die große Inselgruppe "Holy Island" liegt, die bei Ebbe zu erreichen ist - aber nur von Norden. Auch sie ist mit der Missionierung Britanniens verbunden. Um die große A 1 zu vermeiden, steigt der Radweg NCN 1 bei Bedford nun in die Hügel. Ein junges Paar auf einem Liege-Sitz-Tandem hat hier schon ihr Tagesziel erreicht. Sie sind bergauf sehr schnell gewesen. Zwei Fernradlerinnen begegnen uns und schließlich - als wir schon wieder in Küstennähe sind - ein Doppel-Paar. Die vier Freizeitradler wollen auch nach Berwick. Sind sich unsicher, ob sie richtig sind. Wir nicht. Der NCN 1 ist inzwischen ein treuer Begleiter geworden. Wir glauben zu wissen, wann wir uns auf ihn verlassen können.
Eine letzte Pause in den Dünen mit Blick auf Holy Island und die Piste, die dahinführt. Trifle, Lemonkuchen laufen aus. Alles muss weg.
Der Weg durch die Wattwiesen ist mühsam. Die Kräfte schwinden. Wir schinden uns.
Zuletzt ein paar Tropfen. Rein in die Jugendherberge von Berwick. Im Jungenzimmer liegt ein alter Mann, dem sein Rucksack abhanden gekommen ist.
Er versucht schon zu schlafen, will um vier Uhr aufbrechen. Seine Krawatte liegt herum. Sonst praktisch nichts. Der Junge von der Rezeption kommt mit der guten Nachricht, dass der Rucksack gefunden worden sei. Weitere Entscheidungen überfordern den alten Mann, mit dem ich mir das Fünf-Bett-Zimmer teilen werde. Zumindest wohl bis vier Uhr.
Ich gehe. Mit Miri und ohne Dusche erkunden wir noch die Gottesdienstzeiten.
Als wir ratlos vor einem Gebäude mit Davidsternen stehen, klärt uns ein älterer Passant auf: eine Freimaurer-Kultstätte. In der römisch-katholischen Kirche ist morgen Erstkommunion, aber es gibt auch noch anglikanische, schottische-reformierte und methodistische Gottesdienste.
|
 Ayton Castle
|
Big Baby, unnötige Schlenker und die Armada Windräder
Sonntag, 12. Juli 2015: Berwick-upon-Tweed - Grenze England/Schottland - Eyemouth - Dunbar (53 km)
Um halb zwei nachts kommt ein Typ ins Zimmer, den ich sofort Big Baby taufe. Kaum steht er mit seinen Riesen-Shorts und Riesen-T-Shirt im Zimmer, hat den alten Mann und mich geweckt, wirft er sein Smartphone an und beginnt intensiv zu telefonieren. Hätte er vielleicht auch vor der Tür machen können. Vermutlich telefoniert er mit dem Nachbarzimmer oder mit seiner Mutti. Dann geht's ins Bad. Durch Öffnen der Tür springt unweigerlich dank Bewegungsmelder das Licht dort an und das schwillt auch in den so genannten Schlafraum.
Als Riesen-Baby endlich im Bett liegt, beginnt er innerhalb von Sekunden granatenmäßig zu schnarchen. Nun kommt der alte Mann ins Spiel und versucht durch Zischen den Schnarcher zu wecken. Ab und zu gelingt das. Dazu die Dauerspülung des Klos. Irgendwann stößt noch Riesen-Baby II dazu. Als der alte Mann gegen vier Uhr das Zimmer verlässt, um seinem wieder gefundenen Rucksack zuzureisen, schlafe ich wohl. Riesen-Baby II springt dafür recht früh aus dem oberen Bett, komplett mit Jeans gekleidet und zieht davon. Kurz darauf auch Big Baby. Auch er zieht im Schlafzeug in die Welt. Viel Schlaf war nicht. Wir gehen zur Frühmesse der Anglikaner. So trist wie vor einem Jahr in Boston. Keine Lieder, keine Orgel, keine Predigt. Sinkt der Kirchenbesuch weiter wie bisher, habe ich gestern in der Kirchenzeitung gelesen, werden statt heute eine Million in vierzig Jahren nur noch 100.000 Menschen sonntags in die Kirche gehen. Von den Anwesenden wird niemand mehr dabei sein.
|
In der Jugendherberge werden die Sonntagsfrühstückszeiten ausgedehnt, sodass wir auch noch zuschlagen können. Kurz vor elf erreicht das Liege-Tandem-Paar von gestern die Jugendherberge für ein zweites Frühstück. Wir können mit Öl aushelfen. Sie haben die richtige Karte. Das führt zu einem längeren Umweg in westlicher Richtung. Was wiederum unsere Tandem-Stimmung stark sinken lässt. Wir verlassen Berwick auf der A 6105 (Skizze links - unsere Route in gelb; die offiziellen Fahrradrouten in Lila). Und kürzen so immerhin den vorgesehenen noch südwestlicheren Schlenker ab. Nach sechs Kilometern verlassen wir England und entern Schottland. Genau auf der Grenze verpassen wir den quer verlaufenden Fahrradweg, dem wir eigentlich ab hier weiter folgen wollten. Aber hinter Foulden verläuft ein kleinerer No-Name-Radweg, der uns ohne weiteren Umweg nach Ayton bringt. Das Schloss ist heute geschlossen, immerhin kann man im Park auf Sichtweite radeln (Foto oben). Dem zweiten völlig unnötigen Schlenker, der nun folgt, können wir bei Eyemouth immerhin ein kleines Schnippchen schlagen, indem wir uns die letzten 30 Meter runter zum Strand auf der Umgehungsstraße ersparen. Wir wären besser von Ayton direkt einem Vorschlag von Google Maps Bike gefolgt.
|
 Bei Coldingham
|
Eine Windfarm auf der A 1107
|
 Abfahrt in die Pease Bay
|