Neuschwanstein: Der enttäuschende Held der Puzzle-Welt
Sonntag, 11. April 2010: Landsberg am Lech - Schloss Neuschwanstein - Füssen (77 km)
Am Morgen noch ein kleiner Schlussspurt zum Schloss Neuschwanstein. Miri legt einen Ruhetag ein. Mich zieht's zum Ziel der Romantischen Straße. Etwas unromantisch wähle ich die Bundesstraße 17 als Hauptroute. Das allerdings ist eben die "Romantische Straße", wie auf Deutsch und Chinesisch und/oder Japanisch alle paar Kilometer zu lesen ist. Sie hat die ersten 15 Kilometer hinter Landsberg auch einen sehr guten Radweg zur linken Seite. Null Grad. Die Luft klar und frisch. Einige Bewölkung. Der Verkehr am frühen Sonntagmorgen so gering, dass sich auch nach Ende des Radwegs angenehm radeln lässt.
Nach 30 Kilometern ist es in Schongau immer noch null Grad. Meine Füße haben etwa die selbe Temperatur. Beim Lidl-Bäcker-Frühstück fallen mir die Überschuhe ein. Genau das richtige, um die Füße nicht dem Frost zu überlassen. Eigentlich sind sie gegen Regen gedacht. Gegen Kälte wirken sie mindestens genauso gut.
In Schongau glaube ich, auf der Karte einen schönen Radweg-Shortcut direkt am Lech entdeckt zu haben. Allerdings führt der mich kurzfristig in eine Kraftwerks-Sackgasse, mittelfristig auf eine Staumauer und langfristig auf einen schmalen Wanderweg der Marke Wurzelwucht. Ich holpere über den Waldboden. Es ist natürlich unglaublich schön. Aber average speed und Zeitplan geraten ins Hintertreffen. Und ich bin froh, als ich auf die Umgehungsstraße stoße, auf die ich mich durch einen Zaun zurückschleichen kann.
Dann fliegen die Kilometer im Pfaffenwinkel dahin. Auch wenn es insgesamt ein paar hundert Meter aufwärts geht. Dafür enthüllt sich langsam das Alpenbergpanorama. Hier und da blickt die Sonne durch. Die Wiesen lassen trotz sattem Grün keine Frühlingsgefühle aufkommen.
Schloss Neuschwanstein ist wider Erwarten schon auf Kilometer hin sichtbar. Liegt auf Viertelhöhe am erstbesten Bergmassiv (Foto links). Die Schilder führen nur Richtung "Königsschlösser". Denn Neuschwanstein hat noch eine Schwester, Hohenschwangau, die sich auch über Besuche freut. Ein Wanderweg lockt mich erst in die Schlucht ums Schloss. Doch angesichts der am späten Vormittag doch schon recht bevölkerten Umgebung des Schlosses erfahre ich, dass es mit dem Fahrrad nur über den Hauptweg am Ticket Verkauf vorbei hinaufgeht.
Zum Raufradeln braucht man kein Ticket. So veranstalte ich mein ganz persönliches Neuschwanstein-Bergfahren. Auf 840 Metern starte ich. 1.600 Meter weiter, 150 Meter höher und zwölfeinhalb Minuten später rolle ich durchs Burgtor. Russische, japanische, chinesische, amerikanische Touristen in Kutschen und zu Fuß hinter mir lassend. Ich bin: maßlos enttäuscht. Das Schloss hat auf mich keinerlei Ausstrahlung. Ein neoromanisches Bauwerk ohne jegliche Originalität, nicht historisch gewachsen. Ein glanzloses Abbild all der verkitschten Fotos, denen niemand entgeht. Der Held der Puzzle-Welt, Lieblings-Ziel der ausländischen Touristen: eine einzige Enttäuschung. Da mag es drinnen wie auch immer sein. Ich kann dem 150 Jahre alten Bauwerk nichts abgewinnen. Kein Foto mag mir so recht gelingen. Ich lasse mich den Berg hinunter. Rolle die letzten fünf Kilometer nach Füssen. Das mit seiner Burg und Stadtmauer vor See mehr Charme hat (Foto unten) als Ludiwgs majestätisches Schloss. Ich steige gleich in den Zug, um mich in Augsburg wieder mit Miri zu vereinen. In einem Eurocity, der für unsere nicht reservierten Räder eigentlich keine Stellplätze mehr hat. Und auf einer Seite eine defekte Tür. Der sehr freundliche Schaffner regelt aber all das unaufgeregt.
|